Schreibstube

Nackt unter dem Vollmond

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Es war eine dieser Vollmondnächte im Sommer. Ich war zehn Jahre alt und weilte zu Besuch in der Gärtnerei, in der mein Vater seinerzeit als Obergärtner gearbeitet hatte, als ich noch ein Baby war. Wie jedes Jahr waren ganz viele Ferienkinder dort und für mich war kein Bett in einem Zimmer mehr frei.

Darum hatte man mich in ein Zelt im Garten ausquartiert. Das Zelt wurde unter der Birke aufgestellt wo mich beinahe rund um die Uhr das Rauschen der Blätter dieses wunderschönen, grossen Baumes begleitete. Tagsüber natürlich viel Rauschen, weil der Mistral im Wallis im Laufe des Tages zunehmend stärker und stärker bläst, bis er um sechs Uhr abends dann wieder abstellt, als hätte man auf einen Knopf gedrückt.

In dieser einen Nacht konnte ich nicht einschlafen. Wie immer war ich von den vielen Eindrücken des Tages erfüllt. Am Morgen hatte ich in der brütenden Walliser Sonne einen Frühbeetkasten gejätet, eine der kleinen Pflichten erledigt, die wir Ferienkinder jeweils am Vormittag aufgegeben bekamen. Am Nachmittag hatten wir dann in der kleinen Bucht unten an der Rhone auf einer Sandbank gespielt und gewettet, wer länger mit den Füssen im eisigen Gletscherwasser stehen konnte. Jetzt, in der Nacht, sass ich ganz für mich alleine vor dem Zelt im Dunkeln. Die Welt um mich her wurde stiller und stiller. Das Rauschen der Birke war zu einem leisen Flüstern geworden und im Haus wurde ein Licht nach dem anderen ausgemacht. Kein Mensch war mehr unterwegs. Ohne bestimmten Grund bekam ich Lust zu tanzen. Auf dem Rasen neben meinem Zelt, wo sich der Boden unter den Füssen weich und nass anfühlte, tanzte ich wie eine Ballerina, jedenfalls so, wie ich mir vorstellte, würde eine Ballerina tanzen. Ich sprang in die Luft, ahmte Arabesquen nach, drehte Pirouetten und wiegte mich hin und her. Schon bald wurde mir zu heiss, mein Pyjama störte und fühlte sich so ganz und gar nicht tänzerisch an. Also zog ich es aus. Anfangs blieb ich noch im Schatten der Birke, doch bald zog es mich ins Licht. Der Mond beschien die breiten, weissen Platten zwischen den Frühbeetkästen und den Gewächshäusern so hell, dass man beinahe vergessen konnte, dass es Nacht war. Dort war der Stein angenehm kühl und glatt und ganz und gar ohne Schnecken. Nicht wie auf dem Rasen, wo sie bereits in Scharen aus ihren Verstecken hervorgekrochen waren. Also beschloss ich, auf den hellen Platten zu bleiben. Ich tanzte im Kreis, sprang hoch, dann wieder trippelte ich auf den Zehenspitzen, dabei hielt ich meine Arme elegant über dem Kopf oder weit ausgestreckt zur Seite in tänzerischer Pose. Unermüdlich tanzte ich zu einer Melodie, die im Innern meines Kopfes spielte. So hüpfte ich von einer Ecke der Gärtnerei zur anderen, vollkommen nackt, nur gestreichelt von einem sanften, warmen Wind, gehüllt in das milchig-weisse Licht des Mondes. Nicht einen Moment überkamen mich Bedenken, dass mich dabei jemand beobachten könnte. So unschuldig war ich, dass ich mich völlig vergessen hatte. In meiner Erinnerung tanzte ich die ganze Nacht hindurch und fühlte mich dabei wie eine Elfe, in einer anderen Welt, völlig im Moment versunken, überschäumend voll von Lebenslust und Freude.

Manchmal träume ich von einem Ort, der abgelegen genug ist, wo ich mich auch heute noch genau gleich frei und unschuldig fühlen könnte. Dann würde ich auf diese eine Nacht im Sommer warten, wo der Mond voll am Himmel steht und die Luft lau genug ist, dass es keine Kleider braucht. Wo ich noch einmal nackt unter dem Vollmond tanzen könnte.