Schreibstube

Olivias Traum

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Olivia hatte ihre besten Jahre hinter sich. Sie war, was man allgemein eine graue Maus nennt; unauffällig, still, sehr scheu und sehr einsam. In jungen Jahren war sie einmal unsterblich verliebt gewesen, doch diese Liebe wurde nie erwidert. Seither glaubte sie nicht mehr an die romantische Liebe. In ihrem einsamen Leben hatte sie sich der Spiritualität zugewandt. Und Dank dem Internet fühlte sie sich mit einer wachsenden Gruppe von spirituellen Menschen verbunden.

Wenn eine weltweite Meditation anstand, nahm Olivia immer von zu Hause aus daran teil. Sie glaubte fest daran, dass die Menschheit an der Schwelle zu einem neuen Bewusstsein steht und dass sie auf ihre stille Art ihren Teil zu diesem Wandel beitrug.

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Eines Tages stolperte Olivia über die Methode des Tibetischen Traum Yoga. Fasziniert ob der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die sich ausserhalb des Körpers oder in Träumen auftaten, wollte sie alles darüber lernen und kaufte sich alle Bücher, die es zu diesem Thema gab. Das wollte sie auch. Luzid träumen und ihren Körper bewusst verlassen können. Darum integrierte sie sofort alle Praktiken und Meditationen, die ihr für dieses Unterfangen sinnvoll erschienen in ihre tägliche Routine. Und als ihr nach monatelangem Üben das erste mal in einem Traum bewusst wurde, dass sie träumte, war sie so aufgeregt, dass sie darob leider sofort aufwachte. Danach übte sie sich noch gründlicher in gelassener Wahrnehmung. Irgendwann führte das regelmässiges Meditieren vor dem Einschlafen tatsächlich dazu, dass sie ebenso regelmässig luzid träumte.

Das war so aufregend! Sie konnte im Traum ihr Aussehen verändern, wie es ihr gerade gefiel. In ihren Träumen war sie Liv. Und Liv war jung, hatte dunkles, langes Haar, hatte hübsche Brüste und wohlgeformte, lange Beine. Alles fühlte sich unglaublich real an. Sie konnte fliegen wie Superwoman. Wenn sie flog, spürte sie die Luft an ihrer Haut vorbei strömen. In Kurven spürte sie die Fliehkräfte und den Widerstand der Luft. Ein Ort am anderen Ende der Welt war lediglich ein Gedanke entfernt. Und wenn sie danach im Wachzustand Bilder im Internet von den Orten anschaute, die sie in ihren Träumen besucht hatte, erkannte sie sie sogar wieder. Ihr Traumleben war derart spannend, dass Olivia es kaum erwarten konnte, schlafen zu gehen.

Am meisten freute sich Olivia auf die Wochenenden. Da schloss sie ihre Wohnungstür ab, stellte ihr Handy aus und legte sich so bald wie möglich bequem zum Träumen hin. Sie hatte angefangen Yoga zu praktizieren, damit ihr Körper das viele Liegen besser ertrug.


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Irgendwann fiel ihren Arbeitskollegen auf, dass sie noch magerer erschien als gewöhnlich. Einer meinte aufmunternd, dass ihrem Teint etwas frische Luft und Sonne sicher gut tun würde. Sie freute sich zwar über das neu erwachte Interesse an ihr, doch das kam irgendwie alles etwas spät. Einst hatte sie sich so sehr danach gesehnt, dass mal jemand auf sie zukommen würde, doch nun interessierte sie sich kaum mehr für die träge, materielle Welt.

Eines Tages erinnerte sie sich an einen lange zurückliegenden Traum. Obwohl viele Jahre her, stand dieser Traum ihr immer noch so klar vor Augen, als hätte sie ihn erst gestern geträumt. In diesem Traum war ihr ein wunderschöner Mann mit goldblondem Haar begegnet. Die gegenseitige Anziehung war so stark, dass sie ihm sogleich in die offenen Arme gerannt war, obwohl er niemandem glich, den sie kannte, wusste sie trotzdem genau, wer er war. Sie kannte ihn in- und auswendig. Sie wusste, dass er in Paris lebt und als Arzt arbeitet. „Ich sehe, du weisst auch, dass wir Zwillingsflammen sind", sprach er. Und sie wusste auch, dass sie in diesem Leben nicht zusammenkommen konnten. Seine Worte und sein Bedauern hatte sie nie wirklich vergessen können. Doch was wäre, wenn sie ihn wieder in einem Traum, aber diesmal in einem ihrer luziden Träumen träfe?

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Nachdem sie einmal den Entschluss gefasst hatte, ihn im Traum wieder zu finden, suchte sie beinahe jede Nacht nach ihm. Sie konnte die Bilder und die Gefühle, die sie damals im Traum gehabt hatte, problemlos wieder heraufbeschwören. Sein Aussehen hatte sich in ihr inneres Auge eingebrannt. Unzählige male schon hatte sie ihn herbei gewünscht. Erfolglos. Doch dann, eines Tages beim träumen sah von weitem ein Mann auf sie zukommen. Sie wusste, sie spürte es genau, endlich hatte sie ihn gefunden! Die letzten Schritte rannten sie aufeinander zu, schlossen sich fest in die Arme und Olivia atmeten das sichere Gefühl ein, endlich nach Hause gekommen zu sein.

Es folgte die schönste Zeit ihres Lebens. Sie hatten einen Strand mit Strandhäuschen gefunden, wo sie sich jeweils trafen. Wie Verliebte an ihren ersten Dates tauschten sie Wichtiges und Unwichtiges aus ihren Leben aus. Sie spazierten stundenlang am Strand entlang, alberten herum, bespritzen sich mit Wasser oder sassen einfach nur nebeneinander im Sand und genossen den sehnsüchtigen Moment, wenn die Sonne blutrot im stahlblauen Wasser versinkt. Vor ihnen rauschten die Wellen während hinter ihnen, in den Dünen die Grillen zirpten. Die sinnlichen Eindrücke waren so klar und real, dass Olivia beinahe vergass, dass sie träumte. Sie hatte an diesem Strand den fantastischsten, wildesten und romantischsten Sex ihres Lebens. Genau genommen war es ihr erster Sex in diesem Leben. Sie konnten sich kaum voneinander trennen. Umso mehr ärgerte sich Olivia, wenn ihr Körper im Bett nach seinem Recht verlangte. Sei es, weil sie dringend auf die Toilette musste oder der Wecker sie zur Arbeit rief.

Es kamen die Weihnachtsferien. Olivia hatte zwei Wochen im Januar angehängt. Wenn sie nach ihrem Urlaub befragt wurde, antwortete sie, dass für gewisse Destinationen zwei Wochen halt nicht genügen. Die meisten dachten wohl, sie ginge nach Australien oder auf eine ausgedehnte USA Rundreise. Olivia lächelte nur geheimnisvoll.

Es war der 23. Dezember. Die letzten Vorbereitungen waren erledigt. Ihr Kühlschrank war bis zum Rand mit Säften gefüllt. Die Yoga Matte lag ausgebreitet neben ihrem Bett. Wenn sie sich von Flüssigkeiten ernährte, musste sie weniger Zeit im Wachzustand verbringen. Voller Vorfreude legte sie sich auf ihr Bett. Kaum war ihr Körper eingeschlafen, wünschte sie sich an ihren Strand.

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