Schreibstube

Lucky

Lucky1

Es geschah in einer zauberhaften Winternacht. Den ganzen Tag über hatte es geschneit und die Temperaturen lagen tief unter dem Gefrierpunkt. Wenn ich die Verandatüre öffnete, konnte ich das feine Rieseln fallenden Schnees hören. Der Verkehr war wegen der dicken Schneedecke kaum mehr hörbar. Einzig den Schneepflug konnte man hören, der immer mal wieder unten auf der Landstrasse vorbei brauste.


Miir allerdings graute vor der kommenden Nacht. Nicht etwa wegen dem vielen Schnee oder der eisigen Kälte, die plötzlich über uns hereingebrochen war, nein, davor, dass ich mich irgendwann vor Müdigkeit würde hinlegen müssen und dem Gefühl, das dann unweigerlich folgen würde: Dem Gefühl, kaum genug Luft zu kriegen. Wäre ich zum Arzt gegangen, hätte er bestimmt eine Lungenentzündung festgestellt. Doch da gehe ich grundsätzlich selten hin. Und weil ich selbst mit diesem schweren Husten das Rauchen immer noch nicht lassen konnte, wollte ich mich erst recht nicht dem strafenden Blick eines Arztes aussetzen. Selber schuld, dachte ich, ich würde an deiner Stelle noch mehr rauchen.

Also hatte ich mich vor dem Fernseher mit Hustentee und Kuscheldecke eingerichtet. Solange ich sitzen konnte, war der Hustenreiz noch zum Aushalten. Ich wollte die Nacht durchwachen, höchstens sitzend ein wenig schlummern. Vorläufig war die Nacht noch jung und es gab sogar das eine oder andere Interessante am Fernseher zu gucken. Mein Mann wollte mir so lange wie möglich Gesellschaft leisten. Halt solange, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufallen würden.

Lucky2

„Hast Du gehört, da war ein Geräusch an der Verandatür?“ Nein, hatte ich nicht und ich habe ein sehr gutes Gehör. Das einzige Geräusch, das mir bis jetzt aufgefallen war, waren die rasselnden Schneeketten des Schneepflug gewesen, der in regelmässigen Abständen versuchte, dem vielen Schnee Herr zu werden.
„Da, schon wieder, hast Du’s jetzt auch gehört?“ Ja, jetzt hatte ich es auch gehört. Es klang, als hätte ein kleiner Ast an der Verandatür gekratzt. Nur dass da weder ein Baum noch ein Busch noch sonst irgend etwas in unserem Garten wuchs, das auf dem Glas hätte kratzen können.

Mein Mann erhob sich vom Sofa und guckte erst mal durch die geschlossene Glastüre hindurch. „Du, da draussen sitzt ein Hund“, stellt er erstaunt fest. Ich dachte, wie findet bloss ein Hund so spät nachts und bei diesem Wetter zu unserer Verandatür? Ausgerechnet zu der Tür, die von der Zufahrtsstrasse am weitesten entfernt lag, zu der man nur durch unseren Garten gelangte, ein Garten, der obendrein auch noch gutbürgerlich eingezäunt war.
„Vielleicht lassen wir ihn erst mal rein in die gute Stube. Danach gucken wir vor der Haustüre nach, ob wir jemanden auf der Strasse finden, der zu diesem Hund gehört“, schlug ich vor. Mein Mann öffnete die Verandatür und ein schwarzer Labrador in neongrüner Plastikweste trat gänzlich ohne Scheu in unser Wohnzimmer. Lucky stand darauf. Wie praktisch, fand ich sogleich, so wissen wir wenigstens, wie er heisst.
Obwohl ich krank war, war ich doch unvermindert neugierig. Also ging ich mit meinem Mann mit vor die Haustüre nachschauen. Lucky war uns zwar nachgetrottet, hatte aber offenbar genug vom draussen sein. Er war nicht bereit, auch nur eine Pfote vor die Haustüre zu setzen, darum setzte er sich in der offenen Türe schön brav hin und wartete. Mein Mann suchte die Strasse in beide Richtungen ab, doch da war weit und breit niemand zu sehen. Wir konnten auch niemanden nach einem Hund rufen hören. Nicht einmal mehr eine Spur war zu erkennen, die doch in unseren Garten hätte führen müssen. Wir entschieden darum, dass es keinen Sinn machte, noch länger in der Kälte zu stehen, zumal es für mich sowieso vernünftiger war, wieder zurück in die Wärme zu kommen.


Lucky3

Nachdem die Haustüre wieder verschlossen war, schaute ich fragend meinen Mann an: „T’ja was machen wir denn jetzt mit diesem Lucky? Wir können ihn wohl kaum bei dieser Kälte in die Nacht zurück schicken.“ Da waren wir uns einig. Doch er hatte die Idee, dass unser Nachbar, der selber Hunde hat, diesen Hund vielleicht kennen könnte. Man begegnet sich ja schliesslich andauernd beim Spazierengehen. Ein Telefonanruf und wenige Augenblicke später schon stand unser Nachbar in unserem Wohnzimmer, bereit, die wahrscheinlich mittlerweile verzweifelten Besitzer von Lucky zu identifizieren.

Der Streuner hatte sich inzwischen ruhig mir zu Füssen gelegt und war nicht im Geringsten beeindruckt durch die Ankunft von einem neuen Menschen. Selbst der Geruch der anderen Hunde, der ohne Zweifel an unserem Hunde liebenden Nachbarn haftete, liess Lucky kaum den Kopf heben. Das Mäntelchen hatten wir ihm vorläufig anbehalten, weil wir immer noch dachten, dass er ja schon bald wieder nach Hause gehen würde. Doch unserem Nachbarn war dieser Hund gänzlich unbekannt. „Da bleibt nur noch die Hoffnung, dass der Hund gechipt ist,“ meinte er, „denn damit kann die Tiermeldezentrale ganz schnell die Besitzer ermitteln. Ich habe die Telefonnummer von denen. Ich glaube aber kaum, dass dort heute Nacht noch jemand erreichbar ist. Ich kann aber morgen früh gleich mal anrufen“, bot er hilfsbereit beim Hinausgehen an.

Lucky4

Wieder alleine war klar: Lucky würde zumindest diese Nacht bei uns verbringen. Wir stellten ihm ein Schüssel mit Wasser in eine Ecke und zogen ihm die Plastikweste aus. Lucky testete ein paar Schlucke von diesem Wasser, danach schnüffelte er kurz rundum unser Wohnzimmer ab, kehrte anschliessend zu mir zurück, drehte sich da auf hundetypische Art drei mal um die eigene Achse, um sich mir abschliessend mit einem zufriedenen Grunzen erneut zu Füssen zu legen, wo er sogleich einschlief.

Ungefähr eine Stunde und manch erschöpfenden Hustenanfall später verabschiedete sich mein Mann: „Sorry, ich muss jetzt schlafen gehen, ich bin einfach zu müde. Aber du hast ja jetzt einen Beschützer“. Er lächelte kurz zu Lucky hinunter, der ihm nun interessiert nachblickte, bis er um die Ecke gebogen war. Danach stand Lucky auf, wedelte freundlich und stupste mich mit feuchter Nase an. Ich streichelte ihn ausgiebig hinter den Ohren und versprach ihm: „Keine Sorge, Ich bleib hier bei dir“ Was anscheinend alles war, was er hatte hören wollen, denn darauf hin legte er sich mit einem zufriedenen Hundeseufzer wieder hin.

Der friedlich schlafende Hund zu meinen Füssen half mir wach zu bleiben. Immer mal wieder strich ich über sein warmes, schwarzes Fell, froh, ein lebendiges Wesen an meiner Seite zu wissen. Während ich mich durch ein immer langweiliger werdendes Fernsehprogramm suchte, trank ich literweise Tee und hustete mir die Lunge aus dem Leib. Lucky, der von meinen Hustenanfällen völlig unbeeindruckt blieb, gab mir das Gefühl, dass es wohl sooo schlimm nicht sein konnte, sonst bliebe der Hund bestimmt nicht so ruhig. Tiere spüren doch, wenn Gefahr droht, oder? Und warum sonst ist dieser Hund ausgerechnet zu mir gekommen und obendrein in genau dieser Nacht, wenn nicht als mein Beschützer und Wächter?


Lucky5

Als sich mit der Dämmerung der neue Tag ankündigte, fiel mir auf, dass mir das Husten etwas leichter viel. Es war nicht mehr dieser furchtbare Reizhusten, der einen bloss erschöpft. Ich blieb trotzdem bei Lucky sitzen und genoss es, seinen ruhigen Atemzügen zu lauschen. Es wurde zusehends heller. Die Nacht war überstanden.

Als mein Mann noch etwas zerknittert aber ausgeschlafen zu uns die Treppe herunter gestiegen kam, war es bereits taghell und es schneite immer noch. „Wie ist’s euch so ergangen die ganze Nacht?“ wollte er wissen.
Ich erzählte ihm, dass sich mein Husten gelöst hatte und welch einziges Geschenk dieser Hund für mich gewesen war. Ein so ruhiger, wohl erzogener und ganz und gar unkomplizierter Hund.

Gegen zehn Uhr verkündete unser Nachbar am Telefon, dass schon bald jemand von der Tiermeldezentrale bei uns vorbeischauen würde. Und tatsächlich, kurz darauf klingelte es an der Haustüre. Wir hiessen eine ältere Dame willkommen, der die Tierfreundlichkeit so richtig ins Gesicht geschrieben stand. Ihr Scanner offenbarte, dass Lucky tatsächlich gechipt war. Der Chip zeigte an, dass die Besitzer von Lucky Leute waren, die ein Dorf weiter eine Pferdezucht betrieben. Obwohl sie sich sofort auf den Weg machen wollten, würde es trotzdem noch einige Stunden dauern, bis sie bei uns sein können, räumten sie ein. Denn sie seien gerade im Urlaub im Engadin. Lucky sei einem ihrer Stallburschen entwischt und der hatte niemanden unnötig beunruhigen wollen, wohl in der Annahme, Lucky würde schon von selber wieder auftauchen.



Lucky6

Bis also seine Leute auftauchen würden, entschied ich, die Gesellschaft von Lucky zu geniessen. Ich hatte mehrmals versucht, Lucky zum pinkeln zu bewegen. Er stand zwar jedes mal auf und schaute durch die offene Türe in die Schneelandschaft hinaus, doch die schien ihn nicht zu motivieren. Er drehte sich jedes mal entschieden um und legte sich wieder auf den gleichen Platz vor dem Sofa hin.

Als am Nachmittag die Türglocke zum dritten mal an diesen Tag läutete, schien Lucky ganz genau zu wissen, dass dieses Läuten ihm galt. Eifrig begleitete er mich zur Haustüre und sprang, sobald ich die Tür geöffnet hatte, seiner Familie freudig wedelnd entgegen. Ganz so, wie es sich für einen treuen Hund gebührt. Ein freundliches Ehepaar in den Fünfzigern bedankte sich überschwänglich bei uns für unsere Umstände und offerierte mir eine Schachtel Pralinen. „Wirklich keine Ursache,“ entgegnete ich,“ während ich ihnen Lucky’s neongrünes Mäntelchen überreichte. Mit einem vielsagenden Blick auf den Namen, der dort mit schwarzem Filzstift geschrieben stand, fügte ich noch an: „Es waren ‘Lucky’ Umstände“.

Ich war doch diejenige gewesen, die Glück, bez. lucky gehabt hatte. Doch wie erklärt man die Magie einer solchen Begegnung in ein, zwei Sätzen? In dieser für mich so schwierigen Nacht hatte ein Schutzengel auf vier Pfoten bei mir angeklopft. Nun, da seine Mission erfüllt war, sprang er in einem Satz, ohne auch nur einmal zurück zu blicken, auf die Hinterbank des Range Rovers. Ich schaute den davonfahrenden Rücklichtern nach, bis das Auto um die nächste Ecke gebogen war.