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Träume Dich wach, das kaum bekannte Geheimnis des tibetischen Traumyoga

Von Gilbert Ross, Freitag den 13. Oktober. Übersetzt von Sonja Göschel Hunziker
Ursprünglich erschienen auf UPLIFT, am 13. Oktober 2017

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Wie du dein Leben in die Existenz träumst

Es gibt viele Wege zur Erleuchtung und Selbst-Verwirklichung und oft sind sie lang und verschlungen. Seit Anbeginn der Zeit haben wir Praktiken und Philosophien ersonnen, mit dem Ziel unsere vom Geist auferlegten Limitierungen und Illusionen über unser Selbst und unsere Wirklichkeit und soziale Konditionierung zu transzendieren. Das System des Yoga, schamanische Praktiken und die vielen Modelle zur Heilung aus unterschiedlichsten Kulturen über Jahrtausende hinweg weisen alle auf diese grundlegende Bedürfnis der Menschen hin.

Alle diese Praktiken versuchen, den Verstand, den Körper und die Energiesysteme zu überlisten. Sei es indem man die Atmung oder die Körperhaltung verändert oder mit Meditation oder Klängen und vielem mehr.

Doch eine der genialsten und doch am wenigsten bekannten Vorgehensweisen, um unser Verstand/Körper/Energiesystem zu überlisten, führt über unsere Träume. Stell dir vor, du kannst dein Leben, deine Glaubenssätze und deine Beziehung zur Welt im Schlaf verändern. Oder wie wär’s mit spirituellem Wachstum und einem erhöhten Bewusstsein? Dazu brauchst du keine Matte, keine speziellen Übungen und keinen Guru. Keine spezielle Zeit und kein spezifischer Ort wird benötigt. Du brauchst nur zu schlafen und zu träumen. Das und vieles mehr erreicht der Praktizierenden des Tibetanischen Traum Yoga seit Jahrtausenden.

Unsere vielen, unterschiedlichen Träume


Unsere täglichen (oder nächtlichen) Träume sind das am wenigsten verstandene Vorkommnis des menschlichen Lebens. Jeder träumt, jede Nacht, selbst dann, wenn wir uns nicht daran erinnern. Während einer durchschnittlichen Lebensspanne von 70 Jahren verbringt der Mensch beinahe 6 Jahre im R.E.M Schlaf, das heisst träumend. Denk darüber nach.

Auch wenn unsere Träume in unserem täglichen Leben eine intime Rolle spielen, wird ihre Bedeutung kaum anerkannt und schon gar nicht wie sehr sie uns bewusst oder unbewusst im Gestalten unserer Wirklichkeit beeinflussen. In der modernen Welt tendieren wir dazu, Träume zu banalisieren und verbannen sie in den Bereich des Kuriosen, des Seltsamen

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Stell dir vor es ist dir möglich dein Leben, deine Glaubenssätze und deine Beziehungen im Schlaf zu verändern

oder betrachten sie schlicht, als unterhaltsames Thema für eine oberflächliche Konversation. Wir neigen dazu Träume als eine Collage von bizarren Bildern und Geschichten zu sehen, die unser Unterbewusstsein uns vorspielt, während wir schlafen.

Es ist viel mehr dran am Träumen. Das ist jedem klar, der das Bewusstseins erforscht. In der Bön Tradition, auf der der tibetische Buddhismus gründet, wurden Träume als speziell wichtig und als ein unverzichtbares Werkzeug angesehen, um das Bewusstsein zu erhöhen. Träume sind nicht bloss das Bedürfnis unseres Unterbewusstseins, innere Prozesse aufzuarbeiten. Sie sind vielmehr ein machtvoller Ort, an dem wir sowohl mit unserem Unterbewusstsein als auch höheren Bewusstseinsebenen direkt kommunizieren können. Ein Ort, wo wir unser inneres Leben besser verstehen lernen und was noch viel wichtiger ist, verändern können.

Die grundsätzliche Lehre des Tibetischen Traum Yogas lautet, dass wir unser Leben im Wachzustand verändern können, indem wir unser Traumleben verändern. Oder klarer formuliert: Wir werden wacher und klarer in unserem wachen Leben, indem wir wacher und klarer in unseren Träumen werden. Warum ist das so? Weil im Tibetanischen Buddhismus das Leben genauso ein Traumzustand ist, wie unsere Träume während des Schlafes oder der Zeitraum zwischen Leben und Tod. Alle diese Zustände werden Bardo Zustände genannt - die traumhaften Zwischenphasen des reinen Bewusstseins.

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Das Leben im Wachzustand ist genauso ein Traum, wie die Träume im Schlafzustand.

Das Leben ist nur ein Traum

Dem tibetischen Traum-Yoga zufolge ist unser waches Leben auch nur ein Traum, obgleich unsere Sinne und unsere Überzeugungen uns das Gegenteil vorgaukeln. Das ist Teil einer riesigen Illusion, die wir transzendieren, aus der wir erwachen müssen. Das ist so, solange wir innerhalb unserer Träume immer noch unbewusst sind. Der Traum Yogi lernt also als erstes in seinen Schlafträumen wach zu bleiben. In der heutigen Zeit nennen wir das luzides Träumen, oder sich während dem träumen bewusst werden, dass man gerade träumt.

Luzides Träumen ist ein populäres Forschungsgebiet. Es hat Interesse und die Fantasie Menschen jeder Couleur erweckt, auch in solchen, die kein spezielles Interesse an Spiritualität oder persönlichem Wachstum haben. Viele Menschen haben luzide Träume, manche regelmässig, andere gelegentlich. Die einen führen sie bewusst herbei, bei anderen erfolgen sie spontan. Einige üben luzides Träumen, um dort in ihre Fantasien einzutauchen und sie ohne Grenzen auszuleben. Wenn du je einen luziden Traum hattest, dann weisst du wie real und überzeugend sich alles anfühlt. Du kannst jede erdenkliche Erfahrung machen, alle Situation erleben, die du dir vorstellen kannst. Es macht euphorisch, wenn man solch lebendige Erfahrungen haben kann und merkt, dass man sie kontrollieren und teilweise verändern kann. Du kannst Wasser oder ein Vogel sein, dein Geschlecht wechseln, Sex in mehreren Körpern gleichzeitig erleben, zu einem Atom werden, durch die Galaxien und darüber hinaus fliegen und das alles fühlt sich höchst lebendig und intensiv an, da kann die Wachrealität nicht mal ansatzweise mithalten. Für manch luziden Träumer gehören die meisten nächtlichen Abenteuer in den Bereich der Fantasie und dienen der Unterhaltung.

Daran ist nichts falsch, doch darum geht es im tibetischen Traum Yoga nicht. Wenn du in diesem Stadium stecken bleibst, verpasst du die unglaubliche Gelegenheit, diesen Lebensbereich auf viel interessantere Weise zu nutzen als nur um zu fantasieren. - Nämlich aus dem Traum genannt Leben aufzuwachen.

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Luzides Träumen bedeutet, sich im Traum bewusst zu werden, dass man träumt.

Das ultimative Ziel im Traum Yoga ist, während des Sterbeprozesses, was als einer der Bardo Zustände betrachtet wird, vollständig wach zu sein. Um während des Sterbens vollständig wach zu sein, musst du im Leben vollständig wach sein, Um diesen Zustand absoluter Wachheit im Leben zu erreichen, ist die Methode Wachheit im Traum zu erlangen, eine der cleversten. Im Tibetischen Traum Yoga beginnt man also als erstes damit, sich mit der Idee anzufreunden, dass das Leben ein Traum, eine Illusion ist. Du fängst damit an, dass dz diese Idee während deiner täglichen Aufgaben zu Hause, während der Arbeit, wenn du mit Freunden zusammen bist, egal wo auch immer, im Kopf zu behalten. Du bekräftigst die Vorstellung, dass alles was du wahrnimmst, fühlst oder denkst, nur Traumfragmente sind. Das gräbt sich mit der Zeit in dein Bewusstsein ein. Verbunden mit meditativen Praktiken die den Geist beruhigen und einer grösseren Aufmerksamkeit für deine Träume, verändert sich wit der Zeit dein Bewusstsein und auch deine Träume verändern sich. Es beginnt mit kurzen, luziden Episoden und nach einiger Zeit werden sie zur Regel.

Die drei Traumzustände.


Gemäss dem tibetischen Buddhismus gibt es drei Traum-Typen. Es gibt die Samsara oder karmischen Träume. Das sind die häufigsten und kommen bei den meisten Menschen nachts vor. Diese Träume entstehen aus karmischen Überbleibseln, die das Unterbewusstsein nun durcharbeitet. Wir verarbeiten so einen Teil unserer Erfahrungen, die wir während des Tages oder in jüngerer Vergangenheit gemacht haben, aber auch emotionale Zustände wie Angst, Aufregung usw.

Sie sind in dem Sinne karmisch, als dass sie aus unbewussten Verhaltensmustern hervorgehen, die das Unterbewusstsein mit seinen wundervollen Metaphern und Symbolen in unsere Träume hinein projiziert. Von diesen Träumen kann man natürlich auch viel lernen. Und wenn du in einem solchen Traum luzid wirst, kannst du ihn verändern, etwas Neues erschaffen oder dein Unterbewusstsein erkunden. Du kannst z.Beispiel einen Traumcharakter befragen oder den Traum selbst auf Erkenntnisse untersuchen. Du kannst auch viel über deine Blockaden oder deine Talente lernen, was auch immer dir zu einem grösseren Verständnis deines Selbst verhilft. Du kannst auch transpersonale Bereiche erkunden, das, was Carl Jung das kollektive Unterbewusste nannte. In der Bibliothek, wo die archetypischen Muster der kollektiven Psyche der Menschheit abgelegt sind.

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Zu den drei Traumzuständen gehören karmische Träume, Klarträume und Träume reinen Lichts.

Der zweite Traumzustand ist der Klartraum. Wenn du einen Klartraum hast, dann weisst du das. Sie haben eine ganz andere Qualität. Sie fühlen sich anders an und haben eine andere Energie. Normalerweise hinterlassen diese Träume einen starken Eindruck. Du stellst fest, dass sie dich energetisieren, dass du dich ihrer viel leichter erinnern kannst und sie werden dich noch eine geraume Zeit beschäftigen. Klarträume gelten als Botschaften deines höheren Bewusstseins, nicht deines Unterbewusstseins. Normalerweise verhelfen sie zu einem tieferen Verständnis oder geben Orientierungshilfe in wichtigen Lebensbereichen . Sie können auch auf zukünftige Ereignisse hinweisen. Etwas Bedeutsames, das auf dich zukommen mag, eine Gefahr, oder sonst eine Gelegenheit, die dein Leben verändern kann.

Der dritte Traumzustand ist der Traum reinen Lichts. Dieser ist ganz selten und wird erst nach vielen Jahren Praxis im Traum Yoga erreicht. Diese Träume sind auch nicht Träume im eigentlichen Sinne. Tatsächlich hat der Träumer aufgehört zu träumen, denn er ist aufgewacht. Die Träume reinen Lichts transzendieren Karma und Erfahrungen. Sie sind reines Bewusstsein.

Der Weg des Traum Yogi


Was tun also die tibetischen Traum Yogis während ihrer nächtlichen Praktiken? Als erstes üben sie, regelmässig in ihren Träumen luzid zu werden. Das erreichen sie durch bestimmte Meditations Praktiken, die der Konzentration und der Achtsamkeit dienen. Eine dieser Praktiken wird Zhine genannt. Es gibt drei Arten, Zhine zu praktizieren. Das herbeigeführte Zhine, das natürliche Zhine und das ultimative Zhine. Das herbeigeführte Zhine ist, wenn du deinen Geist auf ein Objekt richtest. Die Traum Yogis fokussieren ihren Blick traditionell auf den tibetischen Buchstaben A. Ein anderes Objet geht auch. Natürliches und das ultimative Zhine ist erreicht, wenn der Geist still und fokussiert ist, ohne auf ein Ziel gerichtet zu sein.

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Tibetische Traum Yogis üben sich in Meditation, Atemtechnik in bestimmten Positionen.

Warum ist Konzentration so wichtig? Jeder luzide Träumer, ob er Erfahrung hat oder zufällig luzid geträumt hat, wird dir sagen, dass es am schwierigsten ist, stabil zu bleiben. Sobald dich ein Gedanke ablenkt oder dich begeistert, löst sich der Traum entweder auf oder wird gewöhnlich, man verliert die Klarheit.

Meditation und Visualisations-Praktiken werden sogar bewusst vor dem Schlafengehen praktiziert, so dass man mit einem stillen Geist in den Schlaf fällt. Die andere wichtige Sache hat mit Energie oder Prana (Lebensatem) und Körperhaltung zu tun. Prana ist enorm wichtig, wenn Klarheit in Träumen erreicht werden soll. Die tibetischen Traum Yogis haben erkannt, dass die Art und Weise, wie die Energie durch unsere Kanäle fliesst, Einfluss darauf hat, wieviel uns von unseren Träumen in Erinnerung bleibt und ob wir darin luzid werden oder nicht.

Ich will hier nicht ins Detail gehen und Energie Kanäle gemäss dem tibetischen Buddhismus erklären, denn das wäre viel zu aufwändig. Doch es ist sinnvoll zu erwähnen, dass Atemübungen oft eingesetzt werden, um Energien zu klären. Eine bekannte Praktik wird die neun Atemzüge zur Läuterung und Reinigung genannt. Körperhaltung hat auch einen Einfluss aufs Träumen. Dazu eine Kuriosität. Beachte auf welcher Seite du liegst, wenn du aus einem schlechten Traum aufwachst. Bei Männern wird es meistens die linke Seite sein, bei Frauen eher die rechte. Einmal mehr möchte ich nicht ins Detail gehen, doch im Wesentlichen hat es mit den drei Haupt-Energie-Kanälen entsprechend dem tibetischen Traum Yoga zu tun, dem linken, dem zentralen und dem rechten Kanal. Der zentrale Kanal ist neutral. Wenn er offen ist dient er dem „Rigpa“, was eine Form transzendentalen Bewusstseins ist. Der rechte Kanal wird bei den Männern mit negativen Emotionen und der linke mit positiven Emotionen in Verbindung gebracht (für Frauen ist es umgekehrt). Wenn ein Mann also auf der linken Seite schläft, drückt auf die linke (positive) Seite mehr Gewicht, dann fliesst die Energie freier durch die rechte (negative) Seite und umgekehrt. Mit Meditation und Atemübungen weitet sich der mittlere Kanal und vergrössert die Chancen auf luzides Träumen.

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Das ultimative Ziel im Traum Yoga ist es, sich tatsächlich wach zu träumen.

Zurück also zur Frage: „Was tun Traum Yogis in ihren luziden Träumen? Am Anfang spielen sie mit Formen und Gegensätzen. Sie machen sich zum Beispiel gross wie ein Planet oder klein wie ein Atom. Sie erleben unglaubliche Wonnen oder furchtbare Schmerzen, verändern ihre Gestalt, vervielfältigen sich, usw. . Das macht den Verstand geschmeidig und er ist weniger darauf fixiert, was real ist und was nicht, wie etwa in unserem Wachzustand. Man lernt die Natur des Bewusstseins erkennen und dass es nicht an physikalische Gesetze und Sichtweisen gebunden ist. Danach benutzen sie ihre luziden Träume für spirituelle Praktiken und Nachforschungen. So ist zum Beispiel der Effekt einer Meditation in einem luziden Traum mindestens um ein zehnfaches verstärkt als im normalen Wachzustand. Tatsächlich ist alles, was du in diesen Zustand tust, lebendiger, realer und kraftvoller und kann sich in deinem Unterbewusstsein festsetzen. So nutzen einige luziden Träumer diesen Effekt, um sich in ihrer Kunst oder ihrem Sport zu üben.

Traum Yogis sind auch ständig damit beschäftig, ihren Geist zu heilen und ihr Unterbewusstsein von Blockaden und Ablagerungen zu befreien. Das ist in jedem Fall äusserst wertvoll, egal auf welchem Weg jemand sich befindet. Stell dir vor, du kannst deine einschränkenden und selbst zerstörerischen Glaubenssätze im Schlaf klären und jeden Morgen als ein besserer, vollständigerer Mensch aufwachen.

Das ultimative Ziel des Traum Yogas ist es, sich tatsächlich wach zu träumen. In einigen uralten Traditionen und Volksweisheiten erzählt man sich, dass wir unser Leben in die Existenz träumen und dass die gesamte Schöpfung aus einem Traum hervorgeht. Manchmal liegen unsere Mythen der Wahrheit näher, als wir zu glauben wagen.